Beteiligung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen im Beratungsprozess
Innovation
Forschungslücke
Beteiligung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung ist in der deutschen Forschung ein weitestgehend vernachlässigtes Feld, insbesondere wenn es darum geht, solche Studien unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen durchzuführen.
Entsprechend hebt Kröhnert (2010, S. 116ff.) die Forderungen nach
  • Verbesserung der Datenbasis und
  • vermehrter Praxisforschung hervor.
»Als ein wichtiges Ergebnis des Weltkongresses ist sicher festzuhalten, dass bei der internationalen Weiterarbeit und auch der Umsetzung in nationalen Aktionsplänen dringend auf eine Verbesserung von qualifizierter Praxisforschung und Auswertung von Projekten, Programmen und Maßnahmen zu achten ist. … Neben allgemeinen Bezugsdaten fehlt es insbesondere an qualifizierter und valider Praxisforschung und Evaluation.« (ebd., S. 116)
Die Gründe hierfür sind Zeitdruck, Unsicherheit und mangelnde psychosoziale Fachkompetenz. Für die Rekonstruktion der Auswirkungen und die Folgen der familialen Gewalterfahrung, insbesondere aber auch die Ressourcen und Handlungsfähigkeiten aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen gibt es wenige Reflexionsräume (Dlugosch, 2009). Kinder fühlen sich in diesen Situationen oft nicht ernst genommen und bemängeln, zu schwierige Fragen gestellt bekommen zu haben (Fegert et al., 2011, S. 174ff.).
Bisher gibt es keine konversationsanalytische (Bergmann, 1981, 1995, 2000; Deppermann, 2001, Hitzler & Messmer 2008, Kallmeyer & Schütze, 1977; Reitemeier, 2006) und narrativ orientierte Beratungsforschung auf diesem Gebiet in Deutschland. Vielmehr sind – bedingt durch eine eklatante Ausbildungslücke an Hochschulen – in der Praxis folgende Kompetenzlücken festzustellen:
  • bei mikroskopischen Analysen sprachlich-kommunikativer Prozesse in professionellen Settings zur besseren Verständigung sowie
  • bei der Befähigung zur Versprachlichung, die die Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen unterstützen soll.
Kindern und Jugendlichen werden Handlungsfähigkeit und Intellektualität aufgrund von zu großer Störungsorientierung wegen der erlebten Gewalterfahrung abgesprochen.
Kinder stehen in der Gefahr, in Institutionen auf Pathologien reduziert zu werden.
Speziell im juristischen und psychosozialen Feld der Kindeswohlgefährung problematisiert Wiesner (2006) den Befund, dass die Professionalisierung in Bezug auf Verfahrensstandards zu einer Verschlechterung der Partizipation von Betroffenen geführt hat. Insbesondere in hochriskanten Situationen müsse die Einbeziehung Sorgeberechtigter und betroffener Kinder gewährleistet bleiben. »Andererseits darf bei den betroffenen Kindern nicht der Eindruck entstehen, dass über sie hinweg entschieden wird« (Wiesner, 2009, S. 22).
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Forschungshaltung
Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (BT-Drs-16/12860, 2009) betont, dass der außerschulische - und damit pädagogische wie psychosoziale Bereich - im Hinblick auf eine Befähigung zur selbstverantwortlichen Lebensführung dringend weiterzuentwickeln sei (ebd., S. 17). Damit ist die gesetzliche Verpflichtung verbunden, alle Heranwachsenden in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen und dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu erhalten bzw. zu schaffen (§ 1 SGB VIII).
Daraus resultiert der Anspruch, Gesundheit im Sinne von sozialem, seelischem und körperlichem Wohlbefinden zu denken und entsprechende Unterstützungsfelder sowie professionelle Kompetenzen zu schaffen.
Internationale Konventionen wie die UN-Menschenrechts-Charta und die Kinderrechtskonvention stellen einen verbindlichen Bezugsrahmen dar und müssen nachdrücklicher ins Bewusstsein gerückt werden. Kinderschutz ist nicht ein Service oder moralische Verpflichtung, sondern er ist als Frage von Menschen- und Bürgerrechten zu begreifen (Kröhnert, 2010, S. 116ff.).
Dieses hohe Prestige von Kindern und Kindheit steht im Widerspruch zu einer gleichzeitigen strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Kindern, die in einer »faktischen Vernachlässigung von Kinderbelangen und Kinderinteressen im Alltagshandeln zum Ausdruck kommt« (Krüger & Grunert, 2002, S. 520).
Um einer solchen Paradoxie entgegenzuwirken, richtet sich das Interesse auf die Perspektive von Kindern. Entsprechend des Paradigmas der »neuen Kindheitsforschung« (Ecarius, 1999; Honig, 1999; Hurrelmann & Bründel, 2003) wird explizit nach der Perspektive der Kinder gefragt. Es geht darum, nicht »über Kinder« zu forschen, sondern »Kinder als aktiv Handelnde und (Mit-)Gestaltende« zu betrachten (Mey, 2010, S. 1).
Im Kontext der Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen des methodischen Vorgehens knüpfen ethnografische Ansätze »an den lebensweltlichen Bedeutungen der Kinder selbst« an »und verstehen die Kinder als Akteure, die ihre Wirklichkeit in Interaktionen konstruieren« (Heinzel, 2010, S. 708).
Die mikroanalytische Untersuchung der Kommunikation zwischen den Akteuren (Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen) orientiert sich an diesem Paradigma. Im Kontext von Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung wurde eine solche ethnografische Interaktionsanalyse in Deutschland noch nicht durchgeführt.
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Literatur
Bergmann, Jörg R. (1981). Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In Peter Schröder & Hugo Steger (Hrsg.), Dialogforschung (Reihen: Sprache der Gegenwart, Bd. 54; Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache, 1980; S. 9-51). Düsseldorf: Schwann.
Bergmann, Jörg R. (1995). Konversationsanalyse. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff, Heiner Keupp, Lutz von Rosenstiel & Stephan Wolff (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen (2. Aufl.; S. 213-218). Weinheim: Beltz PVU.
Bergmann, Jörg R. (2000). Konversationsanalyse. In Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 524-537). Reinbek: Rowohlt.
BT-Drs. 16/12860 (Deutscher Bundestag. Drucksache vom 30.04.2009) (2009). Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 13. Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin: Deutscher Bundestag (online verfügbar [1706.2013]).
Deppermann, Arnulf (2001). Gespräche analysieren. Opladen: Leske + Budrich.
Dlugosch, Sandra (2009). Mittendrin oder nur dabei? Miterleben häuslicher Gewalt in der Kindheit und seine Folgen für die Identitätsentwicklung. Wiesbaden: VS.
Ecarius, Jutta (1999). »Kinder ernst nehmen«. Methodologische Überlegungen zur Aussagekraft biographischer Reflexionen 12jähriger. In Michael Sebastian Honig, Andreas Lange & Hans Rudolf Leu (Hrsg.), Aus der Perspektive von Kindern? (S.133-150). Weinheim: Juventa.
Heinzel, Friederike (2010). Zugänge zur kindlichen Perspektive – Methoden der Kindheitsforschung. In Barbara Friebertshäuser, Antje Langer & Annedore Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (3., vollständig überarb. Aufl.; S. 707-722) Weinheim: Juventa.
Hitzler, Sarah & Messmer, Heinz (2008). Gespräche als Forschungsgegenstand in der Sozialen Arbeit. Zeitschrift für Pädagogik, 54(2), 244-260.
Honig, Michael Sebastian (1999). Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt: Suhrkamp.
Hurrelmann, Klaus & Bründel, Heidrun (2003). Einführung in die Kindheitsforschung (2., vollst. überarb. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Kallmeyer, Werner & Schütze, Fritz (1977). Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung. In Dirk Wegner (Hrsg.), Gesprächsanalysen (S. 159-274). Hamburg: Buske.
Kröhnert, Arthur (2010). Das Engagement der NG0s und der spezifischen Beratungsszene bei sexuellem Missbrauch und Traumatisierung. Qualifikation und Qualität - Kriterien der Kinderschutz-Zentren für die Arbeit mit traumatisierten Menschen. In Jörg Michael Fegert, Ute Ziegenhain & Lutz Goldbeck (Hrsg.), Traumatisierte Kinder und Jugendliche in Deutschland. Analysen und Empfehlungen zu Versorgung und Betreuung (S. 107-120). Weinheim: Juventa.
Krüger, Heinz-Hermann & Grunert, Cathleen (2002). Geschichte und Perspektiven der Kindheits- und Jugendforschung. In Heinz-Hermann Krüger & Cathleen Grunert (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung (S. 11-40). Opladen: Leske + Budrich.
Mey, Günter (2003). Zugänge zur kindlichen Perspektive. Methoden der Kindheitsforschung. Forschungsbericht aus der Abteilung Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften – Veröffentlichungsreihe der Technischen Universität Berlin, 7(1), 1-27 [ganzes Heft] (online verfügbar [17.06.2013]).
Reitemeier, Ulrich (2006). Aussiedler treffen auf Einheimische. Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen. Tübingen: Narr.
Wiesner, Reinhard (2006). Kommentar zum SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe (3., völlig überarb. Aufl.). München: Beck.
Wiesner, Reinhard (2009). Partizipation als Modus des Kinderschutzes. Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention für die Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe. IzKK-Nachrichten, 9(1), 21-23.
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Forschung für die Praxis, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst
Hochschule Wiesbaden, ISAPP
Institut für Deutsche Sprache
Stadt Wiesbaden, Schulamt
AWO Wiesbaden, Frauenhaus
Erziehungsberatung Adelheidstraße
Traumapädagogisches Institut Norddeutschland
SOS-Kinderdorf Worpswede
Diakonie Wiesbaden, Therapie-Zentrum
Haus für Frauen in Not, Bad Schwalbach
Makista e.V. - Bildung für Kinderrechte und Demokratie
Modellschul-Netzwerk für Kinderrechte Rhein-Main
Re-Authoring Teaching - Creating a collaboratoy
Die Lobby für Kinder - Ortsverband Wiesbaden